Reiseharmonium James Smith and Son, ca. 1875
Informationen

Datum: | 1875 |
Herkunft: | Liverpool |
Seriennummer: | --- |
Die Entstehung des Harmoniums allgemein
Die Wurzeln des Harmoniums liegen im Spannungsfeld zwischen europäischer Orgeltradition und asiatischen Mundorgeln wie dem chinesischen sheng. Bereits 1779 konstruierte Christian Gottlieb Kratzenstein in Kopenhagen ein erstes Zungeninstrument mit freien schwingenden Metallzungen (free reeds), inspiriert durch chinesische Vorbilder. Ab etwa 1810 wurden in Deutschland mit der Aeoline (Eschenbach & Schlimbach) und der Physharmonika (Anton Haeckl) erste eigenständige Instrumente mit Tastatur und Pedalantrieb gebaut – als unmittelbare Vorläufer des Harmoniums. Ein bedeutender Schritt erfolgte um 1833 mit dem orgue expressif von Gabriel Joseph Grenié in Frankreich, das bereits dynamische Klangveränderungen durch Luftdruck ermöglichte.
Die endgültige Form erhielt das Harmonium durch Alexandre-François Debain, der 1840/42 das erste Instrument unter dem Namen Harmonium patentieren ließ. Ausgestattet mit Fußpedal-Bälgen und Windmagazin setzte Debain technische Standards, die für das gesamte 19. Jahrhundert prägend blieben.
Technische Varianten: Druckwind- und Saugwind-Systeme
Debains ursprüngliches Harmonium war ein Druckwindinstrument, bei dem Luft aus einem Windmagazin durch Tastendruck freigegeben wird. In den USA entwickelten James Cahart und später Mason & Hamlin ab den 1860er-Jahren das Saugwindharmonium, bei dem Luft durch Unterdruck angesaugt wird. Dieses System war einfacher, günstiger und besser für die industrielle Fertigung geeignet – es dominierte ab ca. 1870 den Weltmarkt.
Das Harmonium und seine Entwicklung in Indien
Das Harmonium wurde im späten 19. Jahrhundert durch europäische Missionare und Kolonialbeamte nach Indien eingeführt. Dort traf es auf eine reiche musikalische Tradition – und wurde rasch lokal angepasst und transformiert. Einen entscheidenden Innovationsschritt leistete Dwarkanath Ghose (Dwarkin & Sons, Kalkutta) im Jahr 1875. Er ersetzte die Fußbälge des europäischen Modells durch eine Handpumpe, um dem im Sitzen auf dem Boden ausgeübten Musizierstil in Indien gerecht zu werden. Zudem wurden Drone-Stops und Scale-Changer hinzugefügt, um spezifische Anforderungen der indischen Musik – etwa Ragas und Mikrointervalle – bedienen zu können.
Bis etwa 1915 hatte sich Indien zu einem führenden Produktionsstandort für Harmonien entwickelt, insbesondere in Bengal und Gujarat. Das sogenannte indische Handharmonium wurde zum neuen Standardinstrument und fand breite Verwendung in religiösen, klassischen und populären Musikstilen.
Integration und Kontroversen
Im Laufe des 20. Jahrhunderts etablierte sich das Harmonium als zentrales Begleit- und Solo-Instrument in Süd- und Südostasien – etwa in Ghazal, Qawwali, Bhajan und der Hindustani-Klassik. Musiker wie Bhaiyya Ganpatrao führten das Instrument in den Thumri-Stil der Khayal-Tradition ein. Gleichzeitig war das Harmonium auch politisch umstritten. In der indischen Unabhängigkeitsbewegung galt es als Symbol westlicher Dominanz. Rabindranath Tagore nannte es gar „the bane of Indian music“. 1940 wurde es von All India Radio für klassische Musiksendungen verboten – ein Verbot, das erst 1971 gelockert wurde. Trotzdem blieb das indische Harmonium fester Bestandteil der südasiatischen Musikpraxis – bis heute.
Reiseharmonien im späten 19. Jahrhundert
Parallel zur Verbreitung des Harmoniums in Indien entwickelte sich im späten 19. Jahrhundert eine besondere Variante: das Reiseharmonium. Es war kompakt, klappbar, leicht zu transportieren und für extreme klimatische Bedingungen geeignet – ein ideales Instrument für Missionare, die in entlegenen Regionen tätig waren.
Christliche Missionsgesellschaften führten Reiseharmonien in zahlreiche Kolonialregionen ein – u. a. nach Indien, China und Japan. Sie dienten zur musikalischen Begleitung von Gottesdiensten, in Schulen, Missionsstationen und Hausandachten – insbesondere dort, wo große Pfeifenorgeln oder Klaviere unpraktikabel waren.
- In China wurde das Harmonium ab den 1890er-Jahren in Missionsschulen für den Unterricht westlicher Hymnen und Musiktheorie eingesetzt.
- In Japan wurde es während der Meiji-Zeit (1868–1912) in christlichen Bildungseinrichtungen eingeführt. Der spätere Instrumentenbauer Yamaha war einer der ersten japanischen Hersteller solcher Harmonien.
- Auch in Indien wurde das Harmonium durch Missionskreise verbreitet und fand dort rasch lokalen Anschluss und Anpassung (siehe oben).
Reiseharmonien waren meist zurückklappbar, im Kofferformat verpackt, mit reduzierter Tastatur und wenigen Registern ausgestattet. Sie ersetzten sperrige Tasteninstrumente und waren ideal für improvisierte Gemeindebegleitung – etwa im Zeltgottesdienst oder in der Missionsschule. Gleichzeitig dienten sie als pädagogisches Werkzeug: zum Singen von Hymnen, zur Einstudierung von Chorstücken oder zur Vermittlung westlicher Notenschrift. In dieser Funktion hatten sie großen Einfluss auf das lokale Musikleben – insbesondere in Indien, wo das Harmonium schließlich zur kulturell transformierten, indigenen Form überging.
Das Reiseharmonium von James Smith & Son
Bei dem vorliegenden Instrument handelt es sich um ein zusammenklappbares Reiseharmonium, gefertigt um 1875 von der Firma James Smith & Son, Liverpool. Das Gehäuse besteht aus poliertem Palisanderholz. Das Instrument ist in der originalen Reisetruhe überliefert, deren Seiten mit Messinghenkeln zur besseren Handhabung versehen sind.

Harmoium James Smith and Son, Liverpool ca. 1875 (geschlossen) – Eric Feller Collection
Das Instrument verfügt über eine Klaviatur mit Belägen aus Elfenbein und Rosenholz und einem Tonumfang von drei Oktaven (c – c³). Unterhalb der Tastatur befinden sich fünf Registerhebel zur Aktivierung der Klangregister (Clarinette, Flute, Forte, Celeste, [unleserlich]). Die Hebel sind mit kleinen, beschrifteten Keramikschildern versehen. Im ausgeklappten Zustand treten zwei mit Stoff bespannte Fußpedale hervor, in denen der Blasebalg integriert ist.

Harmoium James Smith and Son, Liverpool ca. 1875 (Register) – Eric Feller Collection
Auf der Oberseite des Instruments befindet sich die Signatur:
“By Special Appointment
76, 74, & 72 Lord St. – James Smith & Son Liverpool
To The Queen.”
Der Klang ist sehr kompakt, direkt und nasal gefärbt. Bedingt durch die kleinere Bauweise und das reduzierte Volumen des Resonanzkörpers verfügt das Instrument über eine geringere Klangfülle als größere Standharmonien, behält jedoch die typische Klangfarbe freischwingender Zungeninstrumente bei.

Harmoium James Smith and Son, Liverpool ca. 1875 (Signatur) – Eric Feller Collection
Die klangliche Ansprache ist unmittelbar und deutlich artikuliert, mit einer geringen Nachklangzeit. Die Register Flute oder Celeste erzeugen weichere, flötenartige Töne, während Forte oder Clarinette brillantere und durchsetzungsfähigere Klangfarben liefern. Obgleich das Instrument aufgrund seiner kompakten Bauweise klanglich limitiert ist, vermag es dennoch einen überraschend lebendigen und farblich differenzierten Ton zu entfalten, der sich durch die manuelle Steuerung des Luftdrucks subtil nuancieren lässt.

Harmoium James Smith and Son, Liverpool ca. 1875 (5) – Eric Feller Collection
James Smith & Son (Music Sellers), Liverpool
Die Firma James Smith & Son (Music Sellers) Ltd. mit Sitz in der Lord Street 72–76 in Liverpool zählt zu den traditionsreichsten Musikalienhändlern Nordenglands. Ihre Entwicklung spiegelt nicht nur die Geschichte des Musikhandels im 19. und 20. Jahrhundert wider, sondern auch die tiefgreifenden Umbrüche, die die britische Musiklandschaft im Zuge von Industrialisierung, Kolonialgeschichte, Kriegseinwirkungen und Technologisierung durchlief.
1. Gründung und Aufstieg (1825–1912)
Gegründet im Jahr 1825, etablierte sich James Smith & Son rasch als bedeutendes Musikfachgeschäft in einer der zentralen Geschäftsstraßen Liverpools. Die Lage an der Lord Street ermöglichte eine hohe Sichtbarkeit und gute Erreichbarkeit – ein entscheidender Standortvorteil in der aufstrebenden Hafen- und Industriestadt. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörte das Unternehmen zu den führenden Anbietern von Tasteninstrumenten, insbesondere Klavieren und Flügeln, aber auch Harmonien und Orgeln.
Ein Umbau der Geschäftsräume durch das renommierte Architekturbüro William Culshaw & Son in den Jahren 1874/75 verlieh dem Haus ein modernes Erscheinungsbild. Die Präsentation von Musikinstrumenten – insbesondere über 24 Konzertflügel – zeugte nicht nur von wirtschaftlicher Stärke, sondern auch von kulturellem Anspruch.1
2. Die Ära Wright und das goldene Zeitalter (1912–1939)
Im Jahr 1912 wurde das Unternehmen von Ernest Sidney Wright übernommen, dessen Familie es über mehrere Generationen weiterführte. Unter seiner Leitung entwickelte sich James Smith & Son zum größten Notenhändler der Region Merseyside und zum Lieferanten für zahlreiche kulturelle Einrichtungen.
Besonders hervorzuheben ist die Rolle des Unternehmens in der Ausstattung transatlantischer Luxusliner der Cunard Line mit hochwertigen Konzertflügeln – eine Aufgabe, die sowohl handwerkliche Exzellenz als auch logistische Kompetenz voraussetzte. Die Geschäftsräume wurden zugleich als Veranstaltungsort für Konzerte prominenter Pianisten sowie als Prüfungsstätte für Musikgrade genutzt. Der Laden wurde somit zu einem kulturellen Zentrum weit über den bloßen Handel hinaus.2
3. Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und Verlust des Firmenarchivs
Ein einschneidendes Ereignis stellte die Zerstörung der Geschäftsräume im Luftkrieg 1942 dar. Im Zuge der deutschen Luftangriffe auf Liverpool (The Blitz) fielen die Verkaufsräume und sämtliche Firmenarchive den Flammen zum Opfer. Damit gingen wesentliche Dokumente zur Frühgeschichte des Unternehmens unwiederbringlich verloren – ein Verlust, der die heutige historische Rekonstruktion erheblich erschwert.3
4. Struktureller Wandel und Aufgabe des Instrumentenhandels (1945–1974)
Nach dem Krieg veränderten sich sowohl das wirtschaftliche als auch das kulturelle Umfeld grundlegend. Mit dem Aufkommen neuer Medien, veränderten Konsumgewohnheiten und einem schwindenden Interesse an klassischer Hausmusik verlagerte sich auch der Schwerpunkt des Unternehmens.
Der Verkauf des letzten Konzertflügels im Jahr 1974 markierte symbolisch das Ende des aktiven Musikinstrumentenhandels bei James Smith & Son. In diesem Zusammenhang wurde auch der langjährige Stimmservice für das Liverpool Philharmonic Orchestra eingestellt – ein weiteres Indiz für die sich wandelnde Rolle des Unternehmens.4
5. Gegenwart: Vom Musikalienhändler zum Elektronikfachgeschäft
Heute existiert die Firma weiterhin unter dem ursprünglichen Namen James Smith & Son (Music Sellers) Ltd., hat sich jedoch gänzlich auf den Verkauf von Fernseh- und Audiogeräten spezialisiert. Sie betreibt Filialen im Raum Southport und dem weiteren Umland von Liverpool. Die Traditionslinie wird somit gewahrt, wenn auch unter veränderten Bedingungen.
Trotz des Wandels bleibt die Geschichte des Unternehmens ein bedeutendes Zeugnis für die Rolle des Musikhandels in der britischen Stadt- und Kulturgeschichte. Sie zeigt exemplarisch, wie eng Handelsgeschichte, Kolonialismus, städtische Infrastruktur, Instrumentenbau und Musikkultur miteinander verflochten sind.
Literaturverzeichnis
- Bygone Liverpool, „Lord Molyneux’s House and the Early Development of Lord Street, Liverpool“, https://bygoneliverpool.wordpress.com/2021/02/14/lord-molyneuxs-house-and-the-early-development-of-lord-street-liverpool/.
- Facebook-Beitrag zur Geschichte von James Smith & Son (Music Sellers), https://www.facebook.com/photo.php?fbid=741153039382821&id=127403904091074.
- British Record Shop Archive, „James Smith & Son, Liverpool“, https://britishrecordshoparchive.org/shops/james-smith–son/.
© Eric Feller – Early Keyboard Collection – Juni 2025
Länge: | 26 cm |
Breite: | 56 cm |
Höhe: | 16 cm |
Umfang: | 3 Oktaven (c – c3) |
Mechanik: | Druckwindharmonium |
Pedale: | Register: 5 Register (Clarinette, Flute, Forte, Celeste, [unleserlich]) |
Signatur: |
“By Special Appointment 76, 74, & 72 Lord St. – James Smith & Son Liverpool To The Queen.” |